Das „Geheimnis“ des Filipino Boxing

Die meisten Menschen kennen Escrima als reinen Stock-/Waffenkampf. Aber Escrima beinhaltet natürlich auch den Kampf und die Selbstverteidigung ohne Waffen. Aber was ist das Filipino Boxing oder Cadena de Mano genau? Bringen wir etwas Licht ins Dunkel.

Eine Frage der Perspektive

Es gibt „unzählige“ Stile im Escrima/Eskrima/Arnis/Kali und alle haben ihre eigenen Interpretationen vom waffenlosen Kampf. Und diese Vielfältigkeit ist ja auch gerade das spannende und das was die Filipino Martial Arts (FMA) ausmacht.

Alle folgenden Ausführungen sind aus meiner persönlichen Latosa-Escrima-Sicht und aus meinem Verständnis des Cadena de Mano geschrieben.

Die Macht des Wortes

Beim Begriff „Filipino Boxing“ denken die meisten Menschen an Boxen. Sie denken an Boxen mit Handschuhen im Ring, an Regeln und Ringrichter, an Einer-gegen-Einen usw… Sport halt. Aber da das Filipino Boxing kein Boxen und auch kein Sport ist, kann diese Bezeichnung natürlich irreführend sein.

Das unbewaffnete Escrima hat viele Namen. Es läuft unter den Bezeichnungen Filipino Boxing oder Cadena de Mano, sowie Pinoy Boxing, Empty Hands, Panantukan und einigen weiteren Begriffen. Ich persönlich bevorzuge die Bezeichnung „Cadena de Mano“.

Da kein Mensch außerhalb der FMA die Bezeichnung „Cadena de Mano“ kennt, nutze ich in der öffentlichen Kommunikation, wie z. B. in Seminarausschreibungen und Flyern, bewusst die Bezeichnung „Filipino Boxing“. Die Leute wissen dann zumindest, dass es um etwas philippinisches und um das Schlagen geht. Oder würdest du, angenommen du wärst ein Nicht-FMA’ler, einen Text über „Cadena de Mano“ lesen?

Letztendlich sind es alles nur Bezeichnungen für waffenlose FMA.

Unsportlichkeit

Cadena de Mano ist nicht für den sportlichen wettkampfmäßigen Zweikampf im Ring konzipiert. Wir wollen keinen Schlagabtausch. Es geht um effektiven Selbstschutz, d. h. um die unsportliche und unfaire Anwendung in Notwehrsituationen. Und zwar mit dem Ziel, eine solche Situation schnell zu beenden und ihr möglichst unbeschadet zu entkommen. Neben der effektiven Technik sind dafür natürlich die richtige Strategie und ein entsprechendes Mindset erforderlich.

Meines Erachtens kann ein solides Cadena de Mano Training trotzdem hilfreich für deine sportlichen Wettkampf-Skills sein.

Die Basis

Das original Latosa Escrima von Grandmaster Rene Latosa ist konzeptbasiert, praxisorientiert und schnörkellos. Die Übertragbarkeit bzw. der Übergang (Transition) von Waffe/Hand bzw. Hand/Waffe ist eines der Grundprinzipien des Latosa Escrima.

Die Basis des Cadena de Mano ist die Waffe – die Klinge. Cadena de Mano ist die waffenlose Umsetzung der Latosa Escrima Waffenkonzepte. Es basiert also nicht auf der westlichen Boxschule, die dann um „schmutzige Techniken“ ergänzt wurde.

Der Weg der Waffe

Im Gegensatz zu manch anderen Systemen, werden in den FMA zuerst grundlegende Waffentechniken und -konzepte erlernt. Diese werden dann wenig später auf die „leere Hand“ und andere Körperwaffen übertragen. Die Waffe dient hier also nicht nur als Waffe, sondern auch als Hilfsmittel für das Training des waffenlosen Kampfes. Die Waffe, vor allem die Klinge, weist dir den Weg für deine waffenlosen Aktionen.

Der Körper wird zur Waffe

Wenn keine Waffe zur Hand ist, wird der Körper zur Waffe. Das ist er zwar mit Waffe auch schon, aber das erkläre ich in einem anderen Artikel. Wenn ich von „Waffen“ rede, meine ich externe Waffen (Stock, Messer, Palmstick usw.) und Körperwaffen (Hände, Arme usw.). Die Körperwaffen, mit denen wir arbeiten sind vielfältig:

  • Hände: Offene Hände, Handballen, Handkanten, Hammerfäuste und Fäuste zum Schlagen. Und die Finger zum Greifen, Bohren usw.
  • Unterarme
  • Ellenbogen
  • Schultern (ja, auch die)
  • Kopf
  • Beine: Knie, Schienbeine und Füße

Bei „Schlagen“ denken viele Menschen als erstes an die Faust, wie aus Film und Boxkampf bekannt. Die Faust ist jedoch sehr fragil. Die relativ kleinen Knöchel und Knochen sowie das Handgelenk können beim Schlagen ernsthaft, ja sogar dauerhaft, verletzt werden. Aus diesem Grund ziehen wir die offene Hand und robustere Körperwaffen der „normalen“ Faust vor. Es sei denn(!), wir wissen, dass und wo wir treffen werden.

Griffe, Hebel…

Beim Cadena de Mano geht es primär um das Schlagen. Und auch um das Schubsen und Ziehen, als Ergänzung sowie als Alternative zum Schlagen (sollte eine dosiertere Anwendung erforderlich sein).

Hebel und Griffe haben ihren Platz im Cadena de Mano, aber nur wenn man es sich leisten kann, d. h. wenn man fähig ist, hart und effektiv zu schlagen. Nur wenn man 100 % (hart Schlagen) geben kann, kann man sich 60 % (Hebel) leisten. Sollten die 60 % nicht reichen, dann kann man immer noch höher schalten.

Wann machen Hebel Sinn?

  • Festlegen eines Angreifers, wenn man diesen körperlich dominiert, d. h. er ist angeschlagen, deutlich schwächer oder wenn man im Team arbeitet. Das kann aber schiefgehen, wenn er nicht allein ist und andere mit in den Konflikt einsteigen. Letztendlich muss man sich fragen, ob man es sich leisten kann/will, jemanden festzulegen und was danach passieren soll (Polizei rufen?). Es hat seinen Platz, aber auch seine Grenzen.
    Merke: Die Polizei braucht ab 3-4 KollegInnen, um eine widerstandleistende Person „sanft“ festzulegen.
  • Kurze Verhebelung, um besser schlagen zu können, z. B. weil der Gegner dadurch kurzzeitig aus der Balance oder in eine andere schwächere Position gebracht werden kann.
  • Zum Brechen von Gelenken. Klingt hart, aber was kaputt ist, ist kaputt. Kaputte Körperwaffen können schlechter gegen dich verwendet werden.
    Merke: Hebeln ist im Grunde nur langsam angezogenes und nicht durchgezogenes Brechen von Gelenken, also der Schongang.

Griffe, Hebel und Brüche lassen sich in der Regel nur sehr schwer bis gar nicht planen. Sie entstehen vielmehr aus der Situation heraus und es gilt, diese dann zu erkennen und für sich zu nutzen.

Dirty Fighting

…und Dirty Tricks

Das Cadena de Mano wird zuweilen auch „Dirty Boxing“ genannt. Aber was ist so „dirty“ (schmutzig) daran?

Wenn man beispielsweise jemandem einen Finger ins Auge sticht, ist das…

…im sportlichen Kontext eine illegale Aktion, die mitunter den Kampf beenden kann, weil der ins Auge gestochene nicht mehr weiterkämpfen kann. Der Augenstecher wird dann disqualifiziert und verliert den Kampf. Hier stellt es also eine „schmutzige“, sprich unfaire und verbotene Technik dar. Diese Technik hat im sportlichen Kontext nichts zu suchen. Alle AthletInnen sollen ja heil bleiben.

…im Notwehrkontext eine effektive Aktion, die den Angreifer eventuell stoppen/irritieren und eine Flucht oder Folgeaktionen ermöglichen kann. Der Augenstecher gewinnt. Hier ist es also eine effektive Technik, eben weil sie unfair ist und gezielt auf eine schwer zu schützende Schwachstelle des Gegners abzielt.

Cadena de Mano ist für die Selbstverteidigung und für das Überleben bestimmt und nicht für das sportliche Boxen. Die „schmutzigen“ Techniken sind Teil des „normalen“ Repertoires, denn realer Kampf ist schmutzig. Das bringt eine völlig andere Denke mit sich als das Training eines Kampfsports.

Kein Switchen

Also, Cadena de Mano / Filipino Boxing ist die waffenlose Umsetzung der Escrima-Waffenkonzepte. Das Schöne am Latosa Escrima ist, dass du dein „Kampfverhalten“ von Waffe zu waffenlos nicht großartig umstellen musst, weil du mit Waffe als auch waffenlos den gleichen Konzepten folgst – natürlich unter Berücksichtigung der Charakteristik deiner Waffe, die deines Gegenübers und gemäß der jeweiligen Situation.

…aber das ist noch nicht alles!

Dieser Artikel ist „work in progress“ und wird noch ergänzt.
Unter anderem kommen die folgenden Themen hinzu:
Unbewaffnet gegen Waffen, Sparring ist kein Kampf, fließende Übergänge, Short Power, Figure-8, Schlagen schützt, Checking…

Stay tuned…

Einführung gefällig?

Am 17. August 2024 werde ich ein Seminar zum „Cadena de Mano“ in Weingarten (bei Ravensburg) geben:

UND / ODER hol dir den Onlinekurs von Grandmaster Rene Latosa zum „Filipino Boxing“:

Latosa Escrima GM Rene Latosa Filipino Boxing Online Videokurs

Latosa Escrima Filipino Boxing von und mit Grandmaster Rene Latosa…

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    2 Antworten auf "Escrima ohne Waffen?"

    • Christian Stein

      Hallo Kai,

      sehr guter Artikel!!! Klasse erklärt.

      Viele Grüsse

      Christian Stein

    • Aladin Fahmy

      Hallo Kai

      Wirklich sehr gut geschrieben. Einfach zu verstehen! Top!

      lg
      Aladin

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